Während sich die Bedürfnisse von Menschenkindern in den letzten Jahrtausenden kaum verändert haben, hat sich die Welt um sie herum rasant gewandelt. Welche Konsequenzen drohen unserer Gesellschaft, wenn Eltern diesen Widerspruch ignorieren und wie kann es gelingen, Kinder in einer modernen Welt möglichst naturnah zu begleiten? Antworten auf diese Fragen finden sich im Natural Parenting.
Noch bevor ein Menschenkind geboren wird, macht sich sein Umfeld Gedanken darüber, wie es aufwachsen soll. Werdende Eltern wälzen Ratgeberliteratur, besuchen Vorträge, sammeln Ratschläge im Bekannten- und Verwandtenkreis, haken Listen ab. Sie wollen alles richtig machen und nur das Beste für ihr Kind. Doch was ist das eigentlich – das Beste? Um das herauszufinden, sollten wir zunächst nicht nach vorn, sondern zurück blicken. In die Jahrtausende alte Geschichte der Menschheit. So kommen wir dem, was für ein Menschenkind „artgerecht“ ist, ein Stück näher und können dann überlegen, wie sich das in der Gegenwart und den hiesigen Gefilden realisieren lässt.
Nicht alle Bausteine des Natural Parenting passen für jede Familie gleichermaßen. Auch dieser Lebensstil ist kein „Patentrezept“, mit dem man aus Kindern gesunde, glückliche und erfolgreiche Erwachsene macht. Doch es ist ein interessanter Ansatz, aus dem jede:r etwas für sich und sein individuelles Lebensmodell mitnehmen kann.
Eltern fühlen sich ausgebrannt
Viele (nicht alle!) Probleme in Familien und Verhaltensauffälligkeiten sowie Erkrankungen bei Kindern entstehen, weil dessen Bedürfnisse und die Gegebenheiten im Umfeld nicht harmonieren. Wir leben in einer modernen Welt, die in nahezu jedem Lebensbereich inzwischen technologisiert und in der Reizüberflutung alltäglich ist. Hektik und Stress, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung, übermäßiger Konsum digitaler Medien und eine fehlende Naturverbindung sind mögliche Ursachen immer häufiger diagnostizierter Zivilisationskrankheiten.
Als zusätzliche Belastung empfinden viele Menschen die steigende Erwartungshaltung der Gesellschaft – etwa im Bezug darauf, Kind und Karriere gleichermaßen gerecht zu werden. Dieser Druck kann langfristig psychischen Erkrankungen den Weg ebnen. Immer wieder hört man in den letzten Jahren vom sogenannten „Mama Burnout“ (von dem seltener, aber ebenfalls Väter betroffen sind). Viele Eltern fühlen sich ausgebrannt und der großen Verantwortung nicht gewachsen.
Der Homo sapiens ist ein Gruppentier
Dieses Gefühl ist aus evolutionärer Sicht absolut nachzuvollziehen. Denn der Homo sapiens ist von Natur aus ein Gruppentier, dessen Gehirn unter anderem auf soziale Fertigkeiten eingestellt ist. Früher hat keine Mutter, hat kein Vater ein Kind allein aufgezogen. Ähnlich, wie bei vielen Primatenarten zu beobachten, haben unsere Vorfahren in der Regel in Kleingruppen gelebt und waren auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. Heute hingegen leben Familien häufig isoliert und stellen sich den Herausforderungen der Kindererziehung – abgesehen von Kita und Schule – weitestgehend allein. „Artgerecht“ ist das nicht.
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, besagt ein afrikanisches Sprichwort. Und es ist viel Wahres daran. Das „Dorf“ kann eine klassische Großfamilie sein, in der sich alle Familienmitglieder von Jung bis Alt gegenseitig unterstützen und entlasten. Diese ist jedoch inzwischen in der westlichen Welt eher Ausnahme, denn Regel. Es kann aber auch bewusst gegründet werden und mit der Zeit wachsen. Wer offen auf andere Menschen in seiner Umgebung zugeht, aktiv um Unterstützung bittet und diese andersherum anbietet, kann ein Netzwerk erschaffen. Auf diese Weise leben Eltern ihren Kindern direkt vor, wie Gemeinschaft mit anderen funktionieren kann. Das fördert deren Selbstständigkeit und ihr natürliches Sozialverhalten.
Lies dazu auch diesen Beitrag von Susanne Mierau.
Bedürfnisorientiert begleiten
Ein weiterer, wesentlicher Baustein des Natural Parenting ist das Erfüllen existenzieller Bedürfnisse. Das klingt selbstverständlich, doch ist es für viele nicht. Veraltete Praktiken, wie etwa das Füttern nach Uhr oder das (unbeaufsichtigte) Schreienlassen von Babys, sind über Generationen weitergegeben worden und noch immer verbreitet. Moderne Studien und Untersuchungen kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass ein gesunder Säugling immer dann gefüttert werden sollte, wenn er Hunger oder Durst hat. Das kann in den ersten Wochen, in denen sein Magen noch sehr klein ist, sogar im Halbstundentakt der Fall sein.
Das sogenannte „Clusterfeeding“ kann anstrengend sein, doch ist ein vollkommen normales Verhalten – das bei einer stillenden Person die Muttermilchproduktion anregen kann. Muttermilch gilt weiterhin als natürlichste und gesündeste Nahrungsquelle und Stillen als bevorzugte Art des Fütterns für einen Säugling. Ebenso sollte die Brust einem Beruhigungssauger wann immer möglich vorgezogen werden, um das natürliche Saugbedürfnis auch außerhalb der Mahlzeiten zu befriedigen. Doch auch bei diesen Themen gilt auch wieder: Es muss für alle Beteiligten passen.
Bindung auch ohne Stillen möglich
Beim Natural Parenting stillen Mütter in der Regel überdurchschnittlich lange und dadurch teilweise auch unterschiedlich alte Geschwisterkinder gleichzeitig. Doch nicht immer lassen es die Lebensumstände oder das Wohlbefinden der Mutter zu und in solchen Fällen kann das bewusste und liebevolle Fläschenfüttern eine vertretbare Alternative sein, ebenso kann ein Beruhigungssauger als Ergänzung zu Körperkontakt und Aufmerksamkeit in manchen Situationen zur Beruhigung beitragen. Alle Errungenschaften der modernen Welt zu verteufeln und ein Kind wie in der Steinzeit aufzuziehen, ist kein Garant für einen gesunden, glücklichen und erfolgreichen Erwachsenen. Dennoch sollte die Natur des Menschen bei einigen Entscheidungen eine Rolle spielen und vieles vor diesem Hintergrund überdacht werden. Und das ist, was die Basis dieses Lebensstils ausmacht.
Schreienlassen fördert Lunge und Stimme? Blödsinn!
Dass das Schreienlassen eines Säuglings die Lungen oder Stimme fördert, ist beispielsweise ein längst widerlegtes Ammenmärchen. Auch muss ein Baby nicht lernen, sich auf diese Art selbst zu beruhigen und es wird durch direktes Reagieren und Interagieren seiner Bindungspersonen keinesfalls „verzogen“. Aus evolutionärer Sicht ergibt das Schreienlassen tatsächlich keinen Sinn. Ein Säugling schreit nie ohne Grund oder gar, um seine Eltern zu manipulieren. Solange er sich nicht durch Sprache verständigen kann, teilt er durch Schreien ein Bedürfnis mit. Es ist die Aufgabe seiner Bezugspersonen, dieses Bedürfnis zu erkennen und zu erfüllen. Neben Hunger und Durst können Gründe für Schreien unter anderen eine volle Windel, Hitze oder Kälte, Müdigkeit, Reizüberflutung, Angst oder Verunsicherung sowie Schmerzen sein. Zuwendung und Körperkontakt geben einem Säugling ein Gefühl von Sicherheit. Auch deshalb ist es ratsam, Babys viel zu tragen – denn von Natur aus sind sie Traglinge. Ein Kinderwagen kann ein praktischer Begleiter sein, gerade wenn man mehrere kleine Kinder gleichzeitig von A nach B bringen oder zusätzlich Einkäufe transportieren muss. Ein Tragetuch oder eine andere Baby-Tragehilfe ist in vielen alltäglichen Situationen jedoch die bessere Wahl und kommt dem, was als „artgerecht“ bezeichnet wird, näher.
Jedes Kind hat sein eigenes Entwicklungstempo
Wird ein Kind größer, rücken automatisch andere Themen in den Fokus, wobei bei nahezu allen bedacht werden sollte, dass sich jedes Kind in seinem eigenen Tempo entwickelt und Eltern in der Regel nicht aktiv dazu beitragen müssen, dass es die nächste „Etappe“ erreicht. Gesunde Kinder lernen von allein, sich zu drehen, zu krabbeln und laufen. Sie zeigen durch sogenannte Reifezeichen, wann sie für feste Nahrung bereit sind und schlafen eines Nachts zum ersten Mal durch. Selbst bei den Themen Schlafen im eigenen Bett oder auf Toilette gehen, erwacht der Wunsch auf Autonomie in Kindern meist ganz von allein. Für all das brauchen sie keine speziellen Trainingsprogramme, Kurse, Coaches oder Belohnungssysteme. Eltern sind zunehmend verunsichert und ängstlich im Umgang mit ihren Kindern. Das Phänomen „Helikoptereltern“ stammt aus der Neuzeit und ist nicht gleichzusetzen mit Eltern, die ihr Kind bedürfnisorientiert begleiten. „Helikoptereltern“ kreisen um ihre Kinder und schränken sie nicht selten in ihrer freien Entfaltung und Entwicklung ihres Selbstwerts ein.
Kinder brauchen Freiraum
Die Übervorsicht von heutigen Eltern führt mitunter so weit, dass der Radius, indem sich größere Kinder außerhalb ihres Zuhauses bewegen dürfen, seit Jahren schrumpft. Während Kinder in den 1960er Jahren regelmäßig im Radius mehrerer Kilometer „herumgestromert“ sind – obwohl es weder GPS-Tracker noch Smartphones gab – halten sich Kinder heute im Durchschnitt nur noch weniger als 500 Meter um ihr eigenes Zimmer herum auf. Immer seltener im Freien, die Draußenzeit hat sich ebenfalls drastisch reduziert. Durchschnittliche Europäer:innen verbringen rund 90 Prozent ihres Lebens in geschlossenen Räumen*¹. Eine erschreckende Zahl, die nicht ohne Folgen bleibt. Immer mehr Expert:innen warnen vor dem sogenannten „Natur-Defizit-Syndrom“, das entsteht, wenn Menschen die Verbindung zur Natur verlieren. Die Urbanisierung hat sicherlich einen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen, doch davon betroffen sind ebenso Menschen, die im ländlichen Raum leben. Nicht nur die Vorsicht ihrer Eltern und ein bis ins Detail durchorganisiertes Freizeit- und Förderprogramm halten Kinder von Naturerfahrungen ab – auch die große Anziehungskraft, die mobile Endgeräte und Spielekonsolen auf sie ausüben. Immer früher und immer länger versinken Kinder heutzutage in digitalen Welten. Im Alter von zehn Jahren haben drei von vier Kindern ein eigenes Smartphone*², zwischen 12 und 13 Jahren beträgt ihre tägliche Bildschirmzeit im Durchschnitt mehr als fünf Stunden*³.
Naturverbundenheit fördern
Beim Natural Parenting spielen neben einem bedürfnisorientierten Umgang im Säuglingsalter auch bewusste Naturerfahrungen von Geburt an und bis ins Teenageralter hinein eine wichtige Rolle. Familien, die diesen Lebensstil leben, verbringen viel Zeit draußen. Sie holen sich die Natur jedoch auch ins Haus – durch gesunde Ernährung, sowie Einrichtung, Kleidung und Spielsachen aus Naturmaterialien. Wer naturverbunden aufwächst, hat in der Regel ein anderes Verständnis für das Thema Nachhaltigkeit und setzt sich dafür auch im Erwachsenenalter noch aktiv ein. Außerdem kann ein solcher Lebensstil dazu beitragen, dass Kinder – physisch und psychisch – gesünder aufwachsen und sie resistenter und resilienter sind.
Quellen: *1 = Repräsentative Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom unter mehr als 900 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren; *2 = Bericht „Die Indoor-Generation – Die Auswirkungen des modernen Lebens auf Gesundheit, Wohlbefinden und Produktivität“, von Velux; *3 = KIM-Studie (Kinder, Internet, Medien).
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.