Susanne Mierau über das „Dorf“, das Familien brauchen

Susanne Mierau
.© Fotografin: Ronja Jung - eurefamiliengeschichte.de

Wir hören oder lesen es immer wieder: “Es braucht ein Dorf, um ein Kind groß zu ziehen.” Neben dem Satz “Wenn sie klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel”, ist dies wohl der meist genutzte Ratschlag für Eltern. Tatsächlich sind nicht nur beide richtig, sondern ergänzen sie sich auch hervorragend: Denn das „Dorf” hat einen nicht geringen Anteil an Wurzeln und Flügeln.

Das „Dorf“ ist ein Ort der Bindung und der Abenteuer für Kinder. Für Eltern ist es ein Ort der helfenden Hände, der Unterstützung und des Anlehnens. Ja, wir alle brauchen dieses sagenumwobene Dorf – Eltern wie Kinder.

Hilfe zur Stressbekämpfung

Was Eltern brauchen – gerade in der heute oft stressigen und terminbeladenen Zeit – ist eine Entschleunigung des Alltags. Das allerdings ist nicht immer einfach: Wir können Achtsamkeitstipps nutzen, um im Hier und Jetzt mit der Familie zu sein, können Abläufe strukturieren und bewusste Auszeiten einplanen. Wir können Entspannungsrituale mit unseren Kindern einführen und handyfreie Sonntage. Aber letztlich stellen wir fest: Wir haben nur zwei Hände für alle Dinge, die erledigt werden wollen. 

Die Entschleunigung sollte nicht ein zusätzlicher Programmpunkt auf einer ohnehin vollen To-do-Liste werden. Die Antwort darauf, wie Entschleunigung ohne Stress möglich ist, finden wir im Dorf: Aufgaben abgeben, Hilfen annehmen und einfordern, um den eigenen Aufgabenberg zu reduzieren. Denn wenn wir Pflichten abgeben, haben wir nicht nur weniger zu tun und mehr Zeit für die Familie, sondern sind insgesamt entspannter. Stress führt zu negativem Erziehungsverhalten: zu weniger Feinfühligkeit, weniger Empathie, mehr Genervtsein und Schimpfen. Gelingt es uns, Stress im Alltag zu reduzieren, verbessern wir die Beziehungsqualität.

Anlehnung als Hilfe

Das Dorf kann uns also dabei helfen, die Beziehung und das Miteinander zu unterstützen durch das Abnehmen von Aufgaben. Darüber hinaus trägt es zur Entlastung von Eltern bei, wenn es einen Ort gibt, an dem sie ihre Emotionen mitteilen können: Sorgen berichten, sich an einer Schulter ausweinen, aber auch zusammen lachen. Das Dorf bietet emotionale Stütze und kann so das persönliche Wohlbefinden von Eltern steigern durch Akzeptanz und Anerkennung der Leistungen.

Bindungen über die Eltern hinaus

Vom Dorf profitieren Kinder nicht nur indirekt durch entspanntere Eltern und mehr Familienzeit, sie haben auch ganz konkrete Vorteile, wenn sie tiefe Bindungen zu verschiedenen Personen eingehen können und dadurch über die eigenen Eltern hinaus verlässliche Ansprechpartner haben. Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass sichere Bindungen zu Personen neben den Eltern eine große Ressource sein können. Durch andere, zugewandte Personen haben unsere Kinder die Möglichkeit, ein weit ausgedehntes “Wurzelwerk” auszubilden. Bindungswurzeln können sich nicht nur zu den Eltern ausbilden, sondern auch Großeltern, Tanten, Onkel, Nachbarn, Freunde, Lehrer*innen. Eben all jene, die in den kindlichen Alltag involviert sind. 

Wurzeln und Flügel für Kinder – Wie andere dabei helfen

Keine Sorge: Der Bindungsbaum eines Kindes hat keine festgelegte Wurzelanzahl. Wenn Kinder zu anderen Menschen eine sichere Bindung eingehen, bedeutet das nicht, dass das auf Kosten der Eltern-Kind-Beziehung geschieht. Das Wunderbare ist: Liebe wird mehr, wenn wir sie teilen. Kindern kann es sogar in ihren Entwicklungsbedürfnissen helfen, wenn sie von mehreren Menschen begleitet werden: Sie lernen unterschiedliche Fähigkeiten von verschiedenen Menschen, erwerben Kompetenz im zwischenmenschlichen Umgang und haben nicht selten ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen bei verschiedenen Personen: Bei Oma und Opa backen wir immer zusammen, bei der besten Freundin zu Hause gibt es einen Kletterturm. “Das Dorf” hilft unseren Kindern, die Flügel auszubreiten, neugierig zu sein und unterschiedliche Erfahrungen machen zu dürfen.

Das Dorf finden

Doch nicht immer ist es einfach, das passende Dorf zu finden. Wir können versuchen, Familienangehörige mit ins Boot zu holen und ihnen moderne “Erziehungs”- und Lebenskonzepte nahe zu bringen, wenn sie bislang vielleicht noch anders erzogen haben. Wir können darüber hinaus aber auch ganz bewusst ein eigenes Dorf zusammenstellen mit Freunden, Nachbar*innen, anderen Eltern aus Spielgruppen, aus der Kita oder Schule. Wir können im Netz nach passenden Menschen suchen und uns dann vor Ort verabreden. Wir können die nette andere Mutter/den Vater im Bioladen ansprechen und beginnen mit einem Austausch. Das Dorf ist das, was du daraus machst.

Susanne Mierau
Susanne Mierau

Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin, Bloggerin ("Geborgen wachsen") und mehrfache Bestseller-Autorin. Mit ihrer Familie lebt sie in Brandenburg.