Romy Winter: „Die dunkle Jahreszeit ist eine Einladung zum Innehalten“

Romy Winter, Interview
BILD: Stefanie Auer

Die Vorweihnachtszeit bedeutet für viele Familien vor allem eins: Stress. Das muss nicht sein, sagt Romy Winter – Familientherapeutin und Bestseller-Autorin. Im Interview verrät sie, warum sie die kalte Jahreszeit besonders mag und gibt Tipps, wie Eltern gelassen durch die nächsten Monate kommen.


Naturkind: Liebe Romy, du bist ein bekennender Fan der kalten Jahreszeit. Was macht für dich den besonderen Zauber des Winters und Advents aus?

Romy Winter: Das stimmt – und liegt keinesfalls (nur) an meinem Nachnamen. Was ich dem Winter und insbesondere dem Advent zugute halte, ist, dass er die Geschwindigkeit meines Alltags drosselt. Durch die Dunkelheit im Außen, kehrt eine gewisse Verlangsamung im Innen ein. Was viele als energetisches Tief empfinden, sehe ich vor allem als Einladung, es der Natur in unseren Breitengraden gleichzutun und runterzufahren. Es ist, als würde ich im Winter, die Stimme die sagt „chill mal“ viel klarer hören.

Und was den Advent angeht: Er steckt, zumindest bei uns zu Hause, voller kleiner langsamer Momente und Rituale, die ein wohlig-warmes Gefühl verbreiten. Wir sind dann irgendwie „zusammener“. Ich bin keine besonders begabte oder geduldige Bastelmama und auch nicht sonderlich trubelliebend – was bedeutet, dass wir uns von all den Angeboten, Möglichkeiten, Events und Märkten nicht verrückt machen lassen. Nicht alles was möglich ist, ist auch nötig. Ehrlicherweise machen wir es uns sogar recht einfach mit dem Weihnachtszauber. Wir backen und lesen mehr, hören Weihnachtslieder, zünden das Räuchermännchen an, trinken Kakao mit Zimtsahne oder Marshmallows, schauen unsere liebsten Weihnachtsfilme und gehen mit Oma ins Theater. Eine Hand voll Rituale und fünf alberne Weihnachtspullover. That’s it. Sonst hätten wir ja auch gar keine Zeit, um diese besondere Zeit zu genießen. Diese Zeit, in der das Jahr langsamer atmet, die Luft voller Geheimnisse ist und es überall leuchtet, so als würden die Sterne näher rücken. 

Außerdem vermag die Adventszeit, das Beste in uns zu wecken. So sehr ich mir auch wünschen würde, dass wir die Nächstenliebe das ganze Jahr auf einem so hohen Level halten könnten, so sehr berührt es mich auch, zu beobachten, wie die kalte Jahreszeit uns zusammenrücken und aneinander denken lässt. Wir machen uns Gedanken, wie wir anderen eine Freude machen können, wir füllen Schuhkartons mit Spielzeug und Schokolade für bedürftige Kinder, wir helfen in Suppenküchen und wir heißen Menschen in unserer Mitten willkommen, die Weihnachten sonst vielleicht allein wären. Das ist schön!

Kannst du verstehen, warum viele Familien vor allem die Vorweihnachtszeit als stressig empfinden?

Absolut. Hier prallen ja auch zwei Gegensätze aufeinander: Im Inneren ist uns eigentlich, wie allen hiesigen Lebewesen, nach Rückzug, Einkehr und Ruhe. Im Außen jedoch wartet zum Jahresende sowohl privat als auch beruflich nochmal ein heftiger Endspurt. Und da spielt es leider keine Rolle, ob unser Energielevel das gerade hergibt oder nicht.

 Im Job naht der Jahres- oder Projektabschluss, und auch privat erlebt das Management der Familie die Rush Hour des Jahres. In unseren Köpfen sind dutzende Tabs offen: Den Urlaub für das kommende Jahr planen und einreichen, Geschenke besorgen, die Weihnachtsfeiertage durchorganisieren, den Festschmaus vorbereiten, mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt gehen, all die Insta-Tutorial ausprobieren, Plätzchen backen, ein Gedicht für Oma lernen und und und. Der Dezember ist voll mit Terminen in Job, Kita, Schule, Hort und Vereinen – und zu jeder Weihnachtsfeier sollen oder wollen wir unseren Beitrag leisten. Da wird mir schon beim Schreiben schwindelig. Hinzu kommt, dass wir ein sehr kitschig verzerrtes Bild von Weihnachten haben und dadurch, neben all dem realen Stress, auch noch unter unseren eigenen Ansprüchen leiden. Manchmal ist uns das aber gar nicht bewusst, weil wir das Weihnachtsprogramm so automatisiert abspulen, ohne kurz innezuhalten und uns zu fragen: Was ist JETZT wirklich, wirklich wichtig? 

Dadurch kommen wir ins Ressourcen- und Zeitnot. Paradoxerweise fällt dann meistens zu erst genau das hinten runter, was wir am dringendsten bräuchten: Selbstfürsorge und Regenerationszeit. Und haben wir dann mal einen Moment Pause, wissen viele von uns gar nicht, wie sie diese möglichst erholsam und effektiv nutzen können und greifen zum Handy – was den Druck oft noch erhöht.

Welche Rolle spielt das direkte und erweiterte Umfeld dabei?

Es gibt zur Weihnachtszeit auf einem kurzen Zeitabschnitt verteilt, eine Menge Menschen, deren Erwartungen, Wünsche und Ansprüche wir erfüllen wollen oder glauben, erfüllen zu müssen. Ob sich der Druck durch die eigene Familie erhöht oder nicht, lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten – das hängt einerseits stark von der räumlichen als auch von der emotionalen Distanz ab, aber auch davon, wie wir Weihnachten einst selbst erlebt haben und was wir in Folge für ein MustHave oder NoGo halten. Manchmal übernehmen wir ganz unreflektiert einen Standard aus unserer Herkunftsfamilie, ohne abzugleichen, ob dieses Idealbild überhaupt zu unserem aktuellen Lebensentwurf passt. Ähnlich ist das manchmal mit Kita, Hort und Schule: Die Kinder erleben dort viele Aktivitäten und Rituale, die sie nach Hause tragen und dort nachahmen wollen. Einerseits ist das großartig, andererseits setzt das Eltern oft unter Zugzwang. Neben der klassischen Weihnachtsfeier gibt es in vielen pädagogischen Einrichtungen heute auch noch Zusatzangebote, wie einen lebendigen Adventskalender, Weihnachtsbasare, Theateraufführungen, gemeinsame Gottesdienste oder Adventsbastelnachmittage. Grundsätzlich ist auch das richtig toll, denn wir brauchen diese gemeinsamen Projekte und Momente für eine funktionierende Erziehungsgemeinschaft. Diese Angebote leben aber auch von Freiwilligkeit und Freude. Niemand kann, muss und sollte sich über seine Grenzen hinaus engagieren. 

Für den schlimmsten Verstärker des weihnachtlichen Perfektionismus halte ich allerdings Instagram, Pinterest und Co. Social Media sollte uns inspirieren, aber nicht ramponieren. Doch auf den Plattformen haben wir jeden Tag Einblick in eine derartige Fülle an (kommerziellen) Möglichkeiten und inszenierten Leben, dass man ja eigentlich gar nicht anders kann, als bei dem Versuch der Nachahmung zu scheitern. So viel schöne Deko. So viele leckere Rezepte. So viele „easy-peasy“ (und trotzdem nichts für mich) Bastelanleitungen. So viele Geschenkideen, wie Lavendelseife, Fotobücher und Selfmade Bodybutter, die nichts kosten – außer Zeit, die Eltern oft einfach nicht haben und Lavendel, den man schon im Sommer hätte ernten müssen. Das in Social Media verbreitete Idealbild macht es einem leicht, sich minderwertig oder unkreativ zu fühlen. Und es lässt uns ganz schnell vergessen, was eigentlich zählt. Klar ist es eine tolle Idee, einen Weihnachtswichtel zum Leben zu erwecken. Die meisten Kinder lieben das. Aber ihnen wird auch nichts von Bedeutung fehlen, wenn wir uns entscheiden, dass wir dieses Jahr keine Energie übrig haben, um heimlich Fußspuren in den Puderzucker vor der Wichteltür zu zaubern oder uns täglich kleine Wichtelstreiche auszudenken. 

Weniger ist hier ganz sicher mehr! Denn das wertvollste Geschenk sind doch Eltern, die nicht völlig erschöpft sind. 

ROMYS TIPPS FÜR EINE HARMONISCHE ADVENTSZEIT
Reflexion: Bemüht euch um realistische Vorstellungen und Erwartungen.
Fokussierung: Legt den Fokus auf eure ganz eigenen Wünsche und Werte. 
Priorisierung und Planung: Entscheidet euch am Anfang der Adventszeit gemeinsam für drei bis fünf Rituale und einige wenige Aktivitäten/Termine ().
Grenzen setzen: Traut euch, Nein zu sagen oder Aufgaben zu delegieren. 
Kommunikation: Kommuniziert eure Erwartungen und Grenzen offen mit eurem Umfeld.
Schummeln: Backen ist Liebe. Fertigteig kaufen auch. Und das selbe gilt für Adventskalender und Weihnächtskränze.

Rund um die Organisation des Weihnachtsfestes gibt es innerhalb der erweiterten Familie bei vielen Unstimmigkeiten. Gefühlt kann man es niemandem recht machen. Die Großeltern wollen die Enkelkinder sehen und vor allem bei Patchwork- und Scheidungsfamilien sind dadurch etliche Parteien involviert. Wie kann man es schaffen, hier frühzeitig Klarheit reinzubringen?

Das lässt sich in Kürze gar nicht so leicht beantworten. Ich persönlich verknüpfe Weihnachten mit Familie. Für mich wäre es undenkbar, meinen Kindern nicht zu ermöglichen, ihre Großeltern an Weihnachten nicht zu sehen – nicht zuletzt, weil ich selbst so viele schöne Erinnerung an Weihnachten in großer Runde habe. Aber je größer die Familie, desto unmöglicher wird es ja, an Weihnachten alle zu besuchen oder einzuladen. Da kommt man manchmal nicht drum herum, einen dritten und vierten Weihnachtsfeiertag einzuführen oder sich jährlich abzuwechseln. In jedem Fall werden die meisten Entscheidungen leichter, wenn man aufhört gegeneinander zu kämpfen und anfängt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die insbesondere für die Kinder tragbar sind aber auch den Bedürfnissen der Eltern, Bonuseltern und Großeltern Rechnung tragen. Wer frühzeitig Klarheit wünscht, der darf auch frühzeitig das Gespräch suchen. Mit etwas Abstand redet und entscheidet es sich oft leichter. Gleichzeitig lässt es sich nicht immer vermeiden, dass unsere Entscheidungen auch mal jemanden enttäuschen. Dann kann es sehr versöhnlich sein, diese Enttäuschung anzuerkennen. „Ich verstehe, dass du traurig bist, wenn wir dieses Jahr Heilig Abend nicht zu euch kommen. Doch dieses Jahr haben wir es für uns als Familie anders entschieden. Nächstes Jahr wünsche ich mir zu Weihnachten einen Tag mehr.“ Mir hilft es, mir Familie wie die Ringe eines Baumes vorzustellen, der von innen nach außen so verläuft: Ich – wir als Paar – wir als Familie – unsere engsten Verwandten/Freunde – erweiterte Familie. Bei der Entscheidungsfindung ist dann klar: Die inneren Ringe haben Priorität.

In Patchwork Familien braucht der Einigungsprozess oft viel Vorlauf und Empathie, sowie Akzeptanz und Kompromissbereitschaft. Ich empfinde große Bewunderung für alle Elternpaare, die hier einen wohlwollenden Umgang gefunden haben. Wirklich!

Ein weiterer Streitpunkt bei vielen ist das Thema Geschenke. Wie können Familien dafür sorgen, dass es hierbei keine Enttäuschungen gibt oder sich jemand angegriffen/verletzt fühlt?

Grundsätzlich gilt wohl auch hier, dass sich Enttäuschungen nicht immer vermeiden lassen. Ist es fair jemandem, der in bester Absicht gehandelt hat, damit zu konfrontieren, dass es das falsche Geschenk war? Oder ist es fair jemandem Freude vorzugaukeln, obwohl das Geschenk spätestens beim nächsten Schrottwichteln den Besitzer wechselt? Ich halte das für eine Ermessensentscheidung. Ich finde es zumutbar, ehrlich aber wertschätzend zuzugeben, wenn man mit einem Geschenk unglücklich ist. Ich finde es aber auch zumutbar, dass Menschen (ja, auch Kinder) mal ein „falsches“ Geschenk bekommen. Das schult die Frustrationstoleranz und trägt womöglich dazu bei, die Geschenken ein wenig aus dem weihnachtlichen Rampenlicht zu holen. Weihnachten ist so viel mehr. 

Und was das jährliche Großeltern-Geschenke-Dilemma angeht: Nach 15 Jahren Elternschaft habe ich gelernt, wohl überlegt zu entscheiden, welche Kämpfe ich austragen möchte, und welche nicht. Ist es wirklich so schlimm? Ist es den Streit wert? In der Retrospektive muss ich tatsächlich über einiges schmunzeln, was mich vor 10 Jahren noch zutiefst erschüttert oder verärgert hat. Bei den Geschenken von den Großeltern bin ich mittlerweile gelassen. Es ist vielleicht nicht immer das, was ich auswählen oder gut finden würde, aber es ist, das sie für ihr Enkelkind ausgesucht haben und in den meisten Fällen entsteht daraus für niemanden ein Schaden. Ich unterstelle da grundsätzlich erst einmal Wohlwollen den Kindern gegenüber und keine Ignoranz oder Provokation mir gegenüber. Das hilft. 

Ich bin der Ansicht, dass Kinder ein Recht auf eine Beziehung zu ihren Großeltern haben, und es ist weder notwendig, noch möglich oder angebracht, diese Beziehung zu choreografieren oder zu kontrollieren. Gleichzeitig gibt es natürlich Grenzen der Toleranz, beispielsweise wenn die Kinder unter den Verhaltensweisen der Großeltern leiden. Das erlebe ich beim Thema Geschenke aber eher selten.

Und wenn man sich, egal ob für sich selbst oder die Kinder, etwas bestimmtes (nicht) wünscht, gilt auch hier: Reden hilft. So kann man sich gemeinsam mit den Verwandten auf eine Art Geschenkekodex einigen oder direkt gemeinsam Ideen entwickeln. Ich finde aber schön, dass Großeltern auch einen eigenen Wirk- und Entscheidungsbereich bekommen. Wie groß der ist, das ist Verhandlungs- und vielleicht auch Vertrauenssache.

Kommt es zur großen Familienfeier mit vielen Beteiligten, sind Meinungsverschiedenheiten vorprogrammiert. Sollte man dem Frieden zuliebe bei Reizthemen schweigen, seine Meinung vertreten oder vielleicht sogar von vornherein absagen? 

Als Veganerin und bedürfnisorientiert begleitende Waldorfkind-Mutter kenne ich diese kleinen und großen Seitenhiebe natürlich. Auch hier wäge ich in der Regel ab, ob eine Diskussion meine Zeit und meine Energie wirklich wert ist. Einerseits haben wir alle eine humanistische Verantwortung, die es uns gewissermaßen verbietet, rassistische Parolen einfach zu tolerieren. Andererseits ist es ok, wenn wir entscheiden, diesen Kampf nicht am Fest der Liebe führen zu wollen. Die Wahrscheinlichkeit, die ältere Generation zu bekehren ist gering und womöglich steht uns das ja auch gar nicht zu. Außerdem würden wir vielleicht zehn Themen finden, bei denen wir uns einig sind oder schöne Gespräche hätten. Warum sollte ich mich dann nur auf das eine Reizthema konzentrieren? Ich versuche immer den Menschen hinter den Sprüchen, Ratschlägen und Parolen zu sehen, mit allen seinen Prägungen und guten Gründen – auch wenn ich diese nicht teile. Erziehungstipps kommentiere ich manchmal mit den Worten „Danke für deine Meinung und deinen lieben Rat. Wir machen das anders.“ Und Veganerwitzen entwaffne ich mit weiteren Veganerwitzen. Humor hilft mir. Und ja, manchmal schweige ich auch, weil ich den Frieden wahren möchte. Meinen Seelenfrieden. Es ist mir wichtiger geworden, ein paar versöhnliche gemeinsame Stunden zu verbringen, als zu missionieren. Denn die Zeit, die wir alle miteinander haben, ist begrenzt.

Mit „Wintermond“ hast du ein Onlineangebot entwickelt, mit dem Teilnehmende die Winterzeit entspannt angehen können. An wen richtet sich dieses Angebot und was erwartet die Teilnehmenden?

„Wintermond“ habe ich vor zwei Jahren ins Leben gerufen, um insbesondere Mütter in der Rush Hour des Jahres zu entlasten. Es handelt sich um ein Selbstfürsorge-Programm, bei dem die Frauen ab Ende November für 60 Tage jeden Morgen einen kleinen Selfcare Impuls auf ihr Handy bekommen, der nicht mehr als fünf bis 15 Minuten Zeit kostet, aber eine spürbare Wirkung hat. Von Atemübungen,  über innere Reisen, Körperübungen, Meditationen, Kreativimpulsen, Journalfragen und kleinen Mini-Challenges ist alles dabei. Durch die Vielfalt weiß frau danach meist ganz genau, was ihr gut tut und wie sie es in den Alltag integrieren kann. Denn das Programm liefert nicht nur ganz konkrete Ideen, sondern hilft auch dabei, eine Selbstfürsorge-Routine zu entwickeln, die bleibt.

ROMY WINTER…
… ist Paar- und Familientherapeutin, Autorin, Dozentin, Gründerin des Familienz® Konzeptes, Supervisorin und Mutter (Ehrenamt). Sie hat erfolgreich mehrere Bücher zum Thema Resilienz in Familien und Partnerschaft in Elternschaft in renomierten Verlagen veröffentlicht. Zwei weitere Bücher erschienen 2024. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei gemeinsamen Kindern lebt sie am Meer, in der Nähe von Rostock. Sie mag Wellen, Wertschätzung, Achtsamkeit, gute Ausbildungen, Pistaziemus, das Leben. Und Weihnachten.
FRAU-WINTER.DE