Vor etwas mehr als 100 Jahren wurde die Waldorf-Pädagogik von Rudolf Steiner begründet – heute gibt es fast 250 Waldorf-Schulen in Deutschland, weltweit sind es mehrere tausend. Doch was macht Waldorf-Pädagogik aus? Wofür steht sie und was sind ihre Grundsätze? Und wie kommt die Waldorf-Pädagogik trotz ihres historischen Ursprungs in der heutigen Zeit an, wie wird sie heute interpretiert? Fragen, die wir im Folgenden gerne genauer unter die Lupe nehmen wollen.
Etwa 100 Jahre ist es her – kurz nach Ende des ersten Weltkriegs – dass die Waldorf-Pädagogik aus einem glücklichen Zusammenspiel heraus entstand: Rudolf Steiner warb in den unruhigen Zeiten nach Ende des ersten Weltkriegs für soziale Reformen. Sein Bekannter und Unternehmer Emil Molt wollte den Kindern seiner Arbeiter:innen Bildungschancen eröffnen und ihnen so den sozialen Aufstieg ermöglichen. Molt gelang es, Direktor und gleichberechtigter Partner der Waldorf Astoria Cigarettenfabrik zu werden. Er stand der Anthroposophie sehr nahe, organisierte Seminare und war als erfahrener und kontaktreicher Unternehmer auch für die Finanzierung zuständig.
Gründung der ersten Waldorfschule
Steiner war gesellschaftspolitisch engagiert und setzte sich für eine Dreigliederung des sozialen Lebens ein – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese galt es neu zu ordnen, wobei Steiner mit Freiheit die Freiheit des Geisteslebens meinte – ein vom Staat unabhängiges Erziehungswesen. Aus dieser Idee entstand der Gedanke einer „Einheitsschule“ ohne soziale Selektion. 1919 wurde die erste Waldorfschule, zunächst noch ohne pädagogisches Konzept gegründet; die später für den Waldorfunterricht so typischen Gestaltungsmerkmale wie Haupt- und Epochenunterricht gab es noch nicht. Im August und September 1919 hielt Steiner die Vorträge, die heute die Grundlage der Waldorf-Pädagogik bilden. Die Waldorf Erziehung entwickelte sich aus ihnen, aber auch aus der Praxis heraus.
Grundsätze der Waldorf-Pädagogik
Musisch-künstlerische Förderung
Handwerken
Bewegung
Fremdsprachen
Ab der ersten Klasse lernen die Kinder zwei Fremdsprachen. Sie üben bei verschiedenen Gelegenheiten das Vortragen vor der Klasse oder im Rahmen verschiedener Theaterspiele auch vor Publikum. Auch Gartenbau und der Umgang mit der Natur sind essentiell für die Waldorf-Erziehung – der Schulgarten ist obligatorisch.
Keine Schulnoten, kein Sitzenbleiben
Die Waldorf-Erziehung sieht keine Schulnoten vor, wohl aber individuelle Beurteilungen, in denen die Lehrer:innen Persönlichkeitsentwicklung und Lernfortschritte beschreiben. Es gibt kein Sitzenbleiben, die Kinder lernen in ihrem Klassenverband von der ersten bis zur 13. Klasse. Individuelle Förderung ist ein weiterer wichtiger Pfeiler der Waldorf-Pädagogik – sie erfolgt während des Unterrichts, individuell und an die Lernsituation angepasst durch weitere Lehrkräfte oder Ergo- und Physiotherapeut:innen.
Die Klassenlehrer:innen bleiben den Kindern in der Regel für 8 Jahre erhalten, denn Beziehung ist in der Waldorf-Pädagogik grundlegend – so machen es sich Waldorfschulen schon lange zu Nutze, dass Lernerfolge vor allem durch ein gutes Lehrer:innen-Schüler:innen-Verhältnis entstehen. Die Entwicklung des:der individuellen Schüler:in steht im Vordergrund, nicht die Leistung. Jede:r soll „seine“ Fähigkeiten entwickeln und erlernen – kognitiv oder handwerklich. Nach 13 Jahren Waldorf-Erziehung sollen die Kinder die Fähigkeit erlernt haben, die Gesellschaft aktiv mitzuentwickeln.
„An Waldorfschulen werden alle Prüfungen für die in dem jeweiligen Bundesland möglichen staatlichen Schulabschlüsse angeboten. Ihre Bezeichnungen variieren von Bundesland zu Bundesland, die Waldorfschulen bieten aber in der Regel die Prüfungen für die Abschlüsse der Sekundarstufe I (Haupt- und Realschulabschluss) und der Sekundarstufe II (Abitur) an. Auch der schulische Teil der Fachhochschulreife kann unter bestimmten Bedingungen in einzelnen Bundesländern erworben werden. Fast alle Schüler:innen an Waldorfschulen erlangen den mittleren Schulabschluss und über die Hälfte gehen mit Erfolg weiter zum Abitur.“
Quelle: waldorfschule.de
Waldorf-Pädagogik heute
Die Waldorf-Erziehung lässt sich nicht an den Lehren Steiners messen. Sie entwickelt sich fortlaufend und hat zum großen Ziel, das individuelle Kind zu sehen und nach seinen Stärken zu fordern und in seinen Schwächen zu fördern. Auch 100 Jahre nach Beginn der Waldorf-Erziehung geht es nicht um die Ver“Steiner“rung an Waldorfschulen und Kindergärten – es geht nicht um die dogmatische Interpretation von Steiner und seiner Lehren. Waldorf-Pädagogik heute zeichnet sich durch seine Handlungsorientierung aus, die auf die jeweiligen Entwicklungsphasen der Kinder abgestimmt ist. Sie setzt darauf, dass Kinder dann Eigeninitiative zeigen, wenn sie aus echtem Interesse heraus entwickelt wurde; persönliche Begeisterung soll durch kreativen und lebensnahen Unterricht entstehen. Dabei ist die Anthroposophie zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des Unterrichts, sie dient lediglich der Erkenntnishilfe der Lehrer:innen.
Waldorf-Pädagogik im Kindergarten
Im Kindergarten ist das Thema „Nachahmung“ zentrale Säule der Pädagogik. Waldorf-Erzieher:innen sehen sich als Vorbild, das dem Kind vorlebt. Dieses nimmt Gesehenes auf und verinnerlicht es. Du wirst Waldorf-Erzieher:innen deshalb häufig bei sinnvollen Tätigkeiten beobachten können – dies sind vor allem Tätigkeiten, die das Kind durchschauen und nachvollziehen kann (stricken, nähen, kochen, Getreide mahlen etc). Im Spiel wird Gesehenes verarbeitet und es findet eine Verknüpfung von motorischen, sozialen und gedanklichen Prozessen statt. Auch hier sind die drei Säulen Kopf, Herz und Hand – Denken, Fühlen, Handeln allgegenwärtig. Dabei geht es aber nicht nur um das Nachahmen von Handlungen, sondern auch von Mitmenschlichkeit und sozialen Interaktionen – diese bilden später die Grundlage für das eigene verantwortliche und moralische Handeln, denn die gemachten Sinneneindrücke und deren Verarbeitung helfen bei der kindlichen Entwicklung.
Spielen mit allen Sinnen
Im Waldorf-Kindergarten wirst du natürliche Spielsachen vorfinden, die die Kreativität der Kinder anregen, denn vielfältige Sinnesanregungen stehen hier im Fokus der Waldorf Erziehung. Die Idee dahinter ist, dass das Kind auf diese unmittelbar, nicht über den Verstand reagiert. Das Freispiel ist zentrales Merkmal im Waldorf-Kindergarten.
Die Farben und Materialen im Waldorf-Kindergarten wirken nicht zufällig so gemütlich – warme Farben und zarte Strukturen sollen für Wärme und Geborgenheit und eine harmonische Umgebung sorgen. Klare Strukturen – gleiche Abläufe und Rituale – sorgen für einen durchschaubaren Rhythmus im Kindergartenalltag und geben den Kindern Klarheit und Sicherheit, ebenfalls ein typisches Merkmal der Waldorf Erziehung. Jahreszeiten und die Feste des Jahres gliedern den Jahreslauf im Kindergarten. Dazu wird ein Jahreszeitentisch gepflegt, der sich der jeweiligen Jahreszeit anpasst und laufend verändert wird.
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.