Wir wollen unsere Kinder gewaltfrei erziehen und dennoch sollen sie sich an gewisse Regeln halten, Aufgaben erledigen, manche Handlungen unterbrechen oder unterlassen. Wie ist das zu vereinbaren, wenn das Kind einen scheinbar ignoriert und erst dann hört, wenn es angebrüllt wird?
Brüllen ist verbale Gewalt. Die meisten Eltern erschrecken sich über ihre eigene Reaktion, wenn sie vor ihren Kindern die Fassung verlieren und es anbrüllen. Nicht selten erinnern sie sich dadurch an eigene Kindheitserlebnisse zurück und daran, wie klein und hilflos sie sich in Situationen gefühlt haben, in denen sie von Erwachsenen angebrüllt worden sind. Sei es von den eigenen Eltern oder Großeltern oder auch von Erzieher:innen im Kindergarten oder Lehrer:innen in der Schule. Die meisten mussten diese Art der Gewalt in ihrer Kindheit oder Jugend erfahren und wollen es im Umgang mit ihren eigenen Kindern nun eigentlich besser machen. Doch das ist gar nicht immer so leicht. Denn in vielen Situationen ist die Brüllfalle nur einen kleinen Schritt entfernt.
Beispiel aus dem Familienalltag
„Tom, bitte räum deine Schuhe in den Schuhschrank“, ruft die Mutter freundlich aus dem Flur in Richtung Kinderzimmer und widmet sich einer anderen Sache. Fünf Minuten später wirft sie einen kontrollierenden Blick in den Flur. Die Schuhe stehen noch immer mitten im Weg. „Tom! Komm sofort hier her!“, ruft sie lauter und mit strengerem Ton. Keine Reaktion. Wütend stapft sie zum Kinderzimmer ihres Sohns. Er sitzt auf dem Boden und spielt entspannt mit seinen Klemmbausteinen. „Sag mal, hörst du schlecht? Ich habe dir schon 100 Mal gesagt, dass du deine Schuhe in den Schrank räumen sollst! Eines Tages bricht sich noch jemand das Genick daran! Räum sie jetzt sofort weg, sonst überlege ich mir was!“ Tom blickt verwundert auf. „Jetzt! Sofort!“, brüllt seine Mutter. Tom steht auf, trottet in den Flur und räumt seine Schuhe weg. „Geht doch. Dass ich immer erst brüllen muss“, kommentiert seine Mutter.
In die Brüllfalle getappt?
MUSS die Mutter das wirklich? Oder ist sie vielleicht in die Brüllfalle getappt? Diese steht im Familienalltag in vielen Situationen direkt vor Eltern und sie zu umgehen ist – das gebe ich als vierfache Mutter zu – nicht immer leicht. Doch es ist möglich. Zunächst müssen wir diese unsichtbare Falle sichtbar machen. Was hat es denn damit eigentlich auf sich? ___STEADY_PAYWALL___Zum ersten Mal habe ich von der Brüllfalle (manche nennen sie auch Schreifalle) gehört, als ich den Vortrag eines Kinderarztes in einer Eltern-Kind-Kur-Klinik besucht habe. Dieser hat als Einstieg den Lehrfilm „Wege aus der Brüllfalle“ abgespielt und die darin gezeigten, typischen Situationen aus dem Alltag von Eltern im Anschluss ausgewertet. Ich konnte mich darin erkennen und habe mich damit schlecht gefühlt. So wie die Mutter im Film wollte ich wirklich nicht sein und so wie das Kind im Film sollten sich meine Kinder nicht fühlen. Ich habe zu dieser Zeit bereits einige Jahre als Journalistin und Buchautorin für Familienthemen gearbeitet und über den Ansatz des „Attachment Parenting“ sehr viel recherchiert und geschrieben. Dennoch ist es mir in der Praxis manchmal passiert, dass ich einem meiner Kinder nicht auf Augenhöhe begegnet bin, sondern es angebrüllt habe. Weil ich an dem Tag bereits viel Stress hatte oder unter Termindruck stand und meine Nerven blank lagen. Das sind keine Entschuldigungen, aber Gründe aus denen viele Erwachsene in die Brüllfalle tappen. Vor allem dann, wenn sie davon noch nie gehört oder Ausweichstrategien gelernt haben.
Was ist diese Brüllfalle denn nun?
Denken wir zurück an das Beispiel mit den Schuhen im Flur. Vermutlich hat Toms Mutter in der Vergangenheit wirklich schon sehr oft mit ihrem Sohn darüber gesprochen, dass seine Schuhe in den Schuhschrank gehören und ihm vielleicht auch erklärt, warum ihr das so wichtig ist. Sie ist müde, wieder und wieder das gleiche zu erzählen und will einfach nur, dass ihr Sohn diese Regel befolgt. Entsprechend genervt ist sie, wenn sie seine Schuhe im Flur herumliegen sieht. Bis zu diesem Schritt ist die Geschichte und sind auch die Gefühle der Mutter nachvollziehbar. Der nächste Schritt kann bereits der in die Brüllfalle sein. Meist beginnt der Weg in die Brüllfalle mit einer freundlich formulierten Bitte, die noch ein bis zwei weitere Male wiederholt wird, ehe eine Drohung folgt und erst dann schnappt die Falle zu und es wird gebrüllt. In dem erwähnten Film ist die Reihenfolge so erklärt:
- 1x nett – Keine Reaktion.
- 2x nett – Keine Reaktion.
- 3x nett – Keine Reaktion.
- Lauter – Keine Reaktion.
- Letzte Warnung – Keine Reaktion.
- Es wird gebrüllt.
Das Brüllen führt meist dazu, dass das Kind nun tut, was von ihm erwartet wird. Zufrieden sind trotzdem die wenigsten Eltern mit dem Ergebnis. Denn zum einen wollen sie gewaltfrei erziehen und sind enttäuscht von sich selbst, dass es ihnen in dieser Situation nicht gelungen ist – oft machen sich Eltern deshalb Vorwürfe und haben ein schlechtes Gewissen – und zum anderen ist diese Art der Erziehung energieraubend. Ein Teufelskreis, denn gerade Energielosigkeit kann dazu führen, in die Brüllfalle zu tappen. Ein weiterer Fakt, der nicht außer Acht gelassen werden darf: Kinder lernen durch Beobachtung und Nachahmung. Kinder, die diese Art der Kommunikation vorgelebt bekommen, wenden sie mit großer Wahrscheinlichkeit selbst an und brüllen ihre Eltern, Geschwister oder auch außerhalb von Zuhause Personen wie Mitschüler:innen oder Lehrer:innen an, wenn sie frustriert sind.
Warum ignorieren uns unsere Kinder?
Toms Mutter hätte nicht gebrüllt, wenn Tom die Regel direkt befolgt und seine Schuhe nach dem Nachhausekommen selbstständig in den Schuhschrank geräumt oder wenigstens einer der freundlichen Bitten seiner Mutter nachgekommen wäre. Warum hat er das nicht getan? Warum ignorieren uns unsere Kinder manchmal, befolgen einfache Regeln nicht oder hören uns scheinbar nicht, wenn wir sie um etwas bitten? Die Beispielsituation ist nur eine von vielen und als Mutter von vier Kindern zwischen anderthalb und 16 Jahren kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass das Alter keine große Rolle spielt. Selbst mein Großer, der unsere Regeln alle bereits auswendig, vorwärts, rückwärts und im Schlaf beherrschen müsste, hält sich oft nicht dran und wenn ich ihn quer durchs Haus rufe, schaltet auch er oft noch auf „Durchzug“. Wollen uns unsere Kinder ärgern, provozieren oder gar tyrannisieren? Haben sie am Ende Spaß daran, uns ausflippen zu sehen? Ist das eine Art Machtspiel? Nein, nein und nochmals nein! Wir sollten die Schuld für unser Verhalten nicht im Verhalten unserer Kinder suchen sondern vielmehr versuchen, uns in sie hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Dann können wir unser Verhalten entsprechend anpassen und die Brüllfalle umgehen.
Unsere Kinder sind Hüllenwesen
Der Begriff Hüllenwesen klingt wie aus einem Fantasy-Roman, beschreibt unsere Kinder aber recht gut. Stellen wir sie uns wie Hüllenwesen vor, fällt es uns direkt leichter, ihr Verhalten nicht persönlich zu nehmen oder als Kriegserklärung zu verstehen. Mir ging es jedenfalls so, nachdem ich den bereits erwähnten Film gesehen habe. Darin war diese Bezeichnung anschaulich erklärt. Kinder sitzen, wenn sie beispielsweise in ein Spiel oder eine andere Aktivität vertieft sind, in einer Art „Blase“, die sie von ihrer Außenwelt abgrenzt. Durch diesen „Kinder-gut-tu-Filter“ nehmen sie allenfalls gedämpft wahr, was um sie herum geschieht oder gesagt wird. Erst das laute Brüllen dringt durch diese unsichtbare Hülle zu ihnen hindurch und deshalb reagieren sie erst dann. Vorher haben sie uns nicht absichtlich ignoriert, sondern tatsächlich einfach „nicht gehört“.
Alternative zum Brüllen
Nun könnte man mit diesem Wissen den Rückschluss ziehen, dass wir unsere Kinder einfach direkt anbrüllen müssen, um sie auf uns aufmerksam zu machen. Doch das ist natürlich nicht die richtige Lösung. Stattdessen gilt es, einen anderen Weg zu finden, unsere Kinder durch ihre Hülle hindurch zu erreichen – auch wenn sie gerade mit etwas beschäftigt sind, das sie wichtig(er) finden, als uns zuzuhören oder unseren Vorstellungen zu entsprechen. Eine Möglichkeit, die bei vielen Kindern ebenso gut funktioniert, ist die direkte Kontaktaufnahme – von Expert:innen „Kontakten“ genannt. Statt quer durchs Haus zu brüllen und zu erwarten, dass unsere Kinder darauf sofort reagieren, können wir zu ihnen gehen. Wäre Toms Mutter – um beim Beispiel zu bleiben – direkt zu ihrem Sohn ins Zimmer gegangen, hätte sich neben ihn gehockt, in sanft am Arm oder der Schulter berührt und Blickkontakt aufgenommen, ehe sie ihre Bitte ausgesprochen hätte, hätte sie die Hülle mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Brüllen durchdringen können. Die Wahrscheinlichkeit, dem Kind die Dringlichkeit klar zu machen, erhöht sich mit einer knappen und klaren „Ich-Botschaft“, statt einer „Du-Botschaft“ oder zu langen Vorträgen. Tom hätte vermutlich dennoch wenig Lust darauf gehabt, sein Spiel zu unterbrechen, um seine Schuhe wegzuräumen. Denn für ihn hätte das auch weiterhin schlichtweg keine Priorität gehabt. Vielleicht hätte er deshalb gemotzt, gestöhnt oder mit den Augen gerollt. Aber vermutlich hätte er es dennoch gemacht.
Was tun, wenn ich mein Kind angebrüllt habe?
Wir sind alle nur Menschen. Trotz guter Vorsätze und Verständnis für dein kleines Hüllenwesen, wirst du es vielleicht dennoch einmal anbrüllen. Was dann? Manche Eltern denken, wenn sie vor ihrem Kind einen Fehler zugeben, Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und sich dafür bei ihrem Kind entschuldigen, würden sie an Autorität verlieren und künftig nicht mehr ernst genommen. Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Eltern, die nicht so tun, als wären sie allwissend und fehlerfrei, wirken auf ihre Kinder authentisch und glaubwürdig. Ist es dir also passiert, nimm dich erst einmal selbst aus der Situation und beruhige dich, ehe du dann das Gespräch zu deinem Kind aktiv suchst. Erkläre (ohne Vorwürfe), wie es dazu kam, dass es nicht richtig war, zu brüllen und entschuldige dich. Mach deinem Kind klar, dass es nicht falsch ist und du es lieb hast, auch wenn du manchmal von seinem Verhalten genervt bist. Dein Kind muss darauf nicht antworten oder deine Entschuldigung „offiziell annehmen“. Sag, was du zu sagen hast und lass es so stehen. Und denk darüber nach, wie du verhindern kannst, dass es in Zukunft wieder dazu kommt. Eventuell suchst du dir Hilfe – wenn du beispielsweise einsiehst, dass du leicht reizbar bist oder in letzter Zeit kraftlos. Es ist wichtig, dass du Gelegenheiten hast, deine Kraftreserven aufzufüllen.
Mögliche Anlaufstellen
Eine erste Anlaufstelle, bei der du dich anonym und kostenlos beraten lassen oder einfach mal deinen Frust, deine Ängste und Sorgen loswerden kannst, ist das Elterntelefon. Beratungsstellen vor Ort kannst du bei deinem zuständigen Jugendamt erfragen. Oft bieten auch beispielsweise die Diakonie, pro familia oder die Caritas (unabhängig von deiner Religion) Beratungen für Eltern an. Diese sind für Geringverdiener:innen und Empfänger:innen von Sozialleistungen in der Regel kostenfrei und von allen anderen ist eine Spende in selbst bestimmter Höhe erwünscht. Erkundige dich einfach bei der Terminvereinbarung nach den Kosten. Von der Krankenkasse wird eine Gesprächstherapie bei einem:einer Psycholog:in und auch eine Eltern-Kind-Kur bezahlt. Auf beides muss man leider oft eine ganze Weile warten – deshalb ist es sinnvoll, sich schon rechtzeitig darum zu kümmern. Hierfür ist der:die erste Ansprechpartner:in der:die Hausärzt:in.
Gute Literatur zu diesem Thema
Es gibt auch eine Reihe toller Bücher, die ich dir zu diesem Thema von Herzen empfehlen kann, etwa „Mama, nicht schreien!“, von Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter oder auch „Erziehen ohne Schimpfen“, von Nikola Schmidt. Beide gibt es praktischer Weise auch als Hörbücher.
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.