Bei der bedürfnisorientierten Erziehung dreht sich alles um das Baby. Seine Bedürfnisse sollen immer rechtzeitig erkannt und befriedigt werden. Was aber ist mit den Eltern, die den Attachment Parenting Weg oft bis an den Rande eines Nervenzusammenbruchs gehen? Sie brauchen Unterstützung – vor allem, wenn sie ein Baby haben, dessen Bedürfnisse weit über dem Durchschnitt liegen: Ein High-Need-Baby.
Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Die meisten sind sehr bemüht, alles dafür zu geben. Dabei gehen sie nicht selten über ihre eigenen Grenzen der Belastbarkeit hinaus und vergessen, dass bedürfnisorientierte Erziehung eines gewiss nicht bedeutet: Völlige Selbstaufgabe. Stattdessen ist Selbstfürsorge wichtig.
Selbstfürsorge statt Selbstaufgabe
Immer wieder hört und liest man von völlig ausgebrannten Eltern – häufiger sind Mütter betroffen – die in ihrem Alltag mit Baby nicht dazu kommen, regelmäßig Nahrung aufzunehmen oder sich um ihre Körperhygiene zu kümmern. Manche können nicht einmal in Ruhe Wasserlassen, geschweige denn ein „großes Geschäft“ erledigen. Sie sind 24/7 gefordert, ihr Baby schreit nahezu rund um die Uhr und wenn es dann doch einmal für eine kurze Zeit schläft, stehen Haushaltsarbeiten und andere Erledigungen an. Ihr eigener Schlaf ist durch die ständigen Unterbrechungen, aber auch durch die psychische Belastung enorm gestört. Das führt dazu, dass die Kraftreserven, die am Tag verbraucht werden, in der Nacht nicht aufgeladen werden können. Situationen, die viele Eltern hin und wieder erleben, sind bei Eltern von High-Need-Babys alltäglich. Während andere Eltern zwischendurch Pausen machen können, sind Eltern von High-Need-Babys ständig gefordert.
Dauert eine derartige Belastungsphase über einen längeren Zeitraum an, kann das schwerwiegende Folgen haben. Junge Eltern haben grundsätzlich ein erhöhtes Risiko, einen Burnout oder eine Depression zu bekommen. Eltern von High-Need-Babys müssen besonders auf sich und ihre eigenen Bedürfnisse Acht geben. Neben dem alltäglichen Stress kommt oft eine gewisse Unzufriedenheit mit dem neuen Leben hinzu – in dem man selbst als Frau, als Mann, als Paar gar nicht mehr stattzufinden scheint – und das man sich ganz anders ausgemalt hat. Nicht selten mündet dieses Gefühl des „Zukurzkommens“ in einer Paarkrise oder auch im „Regretting motherhood“ (Bedauern der Mutterschaft) – was übrigens auch Väter treffen kann. Doch das muss nicht sein!
Die Verantwortung teilen
Jeder Elternteil sollte regelmäßig kleine Auszeiten nur für sich haben. In dieser Me-Time werden die Akkus wieder aufgeladen. Im Idealfall führt man eine Partnerschaft auf Augenhöhe und wechselt sich entsprechend mit der Betreuung des Babys ab. Oftmals ist die Realität davon jedoch weit entfernt, wird das klassische Rollenmodell gelebt, ist der eine Elternteil den ganzen Tag allein mit Baby (und eventuell weiteren Kindern) und der andere Elternteil nach der Arbeit müde und wenig motiviert, sich um einen schreienden Säugling zu kümmern. Um am nächsten Tag auf der Arbeit wieder fit zu sein, wird die Nacht häufig getrennt verbracht, sodass das High-Need-Baby vor allem zur Belastung für den hauptbetreuenden Elternteil – meist die Mutter – wird. In einer solchen Situation können Gespräche helfen, eventuell moderiert durch eine Beratungsperson. Findet ein Elternteil in dem:der Partner:in keine ausreichende Unterstützung, ist definitiv Hilfe von Außen gefragt.
Unterstützung von Außen holen
Wer durch seine:n Partnerin oder im unmittelbaren Umfeld keine Unterstützung findet und kein Budget für eine Haushaltshilfe oder Kinderbetreuung hat, muss nicht verzweifeln. In Deutschland gibt es zahlreiche Unterstützungsangebote für Eltern. Darum kümmern muss man sich selbst. Am besten noch vor der Geburt, spätestens aber, wenn die ersten Anzeichen für eine Überlastung sprechen. Welche Angebote es in der eigenen Region gibt, erfährt man beispielsweise über das Jugendamt oder eine Erziehungsberatungsstelle. Auch Kinderärzt:innen oder Hebammen können darüber Auskunft geben – in manchen Praxen liegen entsprechende Broschüren kostenfrei im Wartezimmer aus.
wellcome
Eine Sozialunternehmen, das ehrenamtliche Helfer:innen in Familien vermittelt, ist wellcome. Das Angebot verspricht Hilfe im ersten Lebensjahr: „Unser Angebot wellcome – Praktische Hilfe nach der Geburt richtet sich an alle, die im ersten Lebensjahr ihres Kindes praktische und unbürokratische Hilfe suchen. Soziale Herkunft und Einkommen spielen bei wellcome keine Rolle. Die Unterstützung ist unabhängig davon, ob es das erste Kind ist oder ob es bereits Geschwisterkinder gibt. wellcome entlastet alle Familien, die sich in dieser ersten Zeit Unterstützung wünschen“, schreibt wellcome auf der eigenen Website.
Leihomas/Leihopas
Unterschiedliche Träger, wie Caritas, AWO, Malteser oder Diakonie vermitteln vielerorts sogenannte „Leihomas“ und „Leihopas“ an Familien. Ehrenamtliche Rentner:innen besuchen und unterstützen Familien und können mit der Zeit zu Familienmitgliedern werden. Eltern, die neben einem High-Need-Baby weitere Kinder haben, können von den Ersatzgroßeltern auch profitieren, indem diese die größeren Kinder betreuen. Sie können mit diesen beispielsweise etwas unternehmen oder sie bei Hausaufgaben unterstützen. Wer in seiner Nähe kein solches Angebot hat, kann selbst aktiv werden und beispielsweise mit einem Aushang an einem Schwarzen Brett (beispielsweise im Supermarkt), über ein Kleinanzeigenportal oder mit einer Kleinanzeige in einer lokalen Zeitung eine „Leihoma“ oder einen „Leihopa“ suchen.
Eigene Ansprüche herunter schrauben
Vor allem Mütter haben oftmals extrem hohe Ansprüche an sich und belasten sich damit zusätzlich. Alle Eltern, aber vor allem jene die durch ein High-Need-Baby in besonderem Maße gefordert sind, sollten ihre Ansprüche ehrlich anschauen und gegebenenfalls herunterschrauben. Das Haus muss nicht immer blitzeblank gebohnert, die Wäsche nicht bis zum letzten Schlüpfer gebügelt, der Rasen nicht immer auf zwei Zentimeter getrimmt, die Hecke nicht im rechten Winkel geschnitten und das Auto nicht wöchentlich geputzt sein. Und eine Mutter muss nicht kurz nach der Geburt wieder in ihre alten Jeans passen, dafür hungern und Sport treiben, sich täglich frisieren, schminken und schick machen. Ein Baby muss nicht in Frühförderkurse gebracht werden und auch nicht in den ersten Wochen allen Verwandten und Bekannten persönlich vorgestellt werden.
Me-Time ohne schlechtes Gewissen
Ob man in der kurzen Auszeit zwischendurch einfach nur schläft, sich ein entspannendes Bad gönnt, meditiert, Sport macht, in einem Buch liest, einem Hobby nachgeht oder sich mit Freund:innen trifft ist vollkommen egal. Wichtig ist, dass man in dieser Zeit keine Verantwortung für das Baby trägt und dieses in guten Händen weiß – sodass man den Kopf frei und kein schlechtes Gewissen hat. Stillende Mütter können vorab Muttermilch abpumpen, falls das Baby Hunger oder Durst bekommt.
Me-Time widerspricht oft dem eigenen Anspruch, voll und ganz für sein Baby da zu sein, es rund um die Uhr zu verwöhnen und so die Beziehung zu stärken. Das ist nachvollziehbar. Doch kein Baby hat etwas von einem vollkommen ausgebrannten Elternteil, das vor lauter Stress krank wird und sich dann längerfristig nicht mehr ausreichend um die alltäglichen Aufgaben kümmern kann.
Selbstvorwürfe wie die folgenden sind typisch – aber nicht wahr. Erwischt man sich dabei, solche Gedanken zu haben, sollte man sie ganz schnell ziehen lassen. Denn sie sind absolut deplatziert und führen zu nichts.
- Ich habe es mir selbst ausgesucht, also muss ich da jetzt durch.
- Ich habe als Mutter/Vater versagt.
- Ich bin zu schwach für meine Rolle als Mutter/Vater.
- Ich gefährde die Beziehung zu meinem Baby, wenn ich mir Auszeiten gönne.
- Ich bin egoistisch, wenn ich jetzt etwas für mich tue – andere Dinge wären wichtiger.
- Ich habe in der Schwangerschaft, bei der Geburt, in der ersten Babyzeit etwas falsch gemacht und bin Schuld daran, ein High-Need-Baby zu haben.
- Ich sollte die Zeit ohne Baby mit meinem:meiner Partner:in oder anderem Kind un nicht allein verbringen.
Glücksmomente festhalten
Eltern von High-Need-Babys sind in ihrem Alltag derart gefordert und mit den Nerven am Ende, dass sie die schönen Momente und Erlebnisse kaum noch wahrnehmen. Doch diese finden statt. Um sie sich bewusst vor Augen zu halten, kann man:
- Jeden Abend bewusst drei schöne Momente des Tages gedanklich abrufen und sich dafür bedanken.
- Glückstagebuch führen und die schönsten Momente des Tages oder der Woche aufschreiben. Vielleicht auch ein Foto dazu kleben.
- Ein ausgewaschenes Marmeladenglas auf dem Esstisch platzieren und jeden Glücksmoment in Stichpunkten auf einen kleinen Zettel schreiben, diesen dann in das Glas geben und immer, wenn man das Gefühl hat, das Leben sei nur noch Schwarz, die Zettel durchlesen. „Marmeladenglasmomente“ nennt sich diese Idee.
Anzeichen für Burnout ernst nehmen
Eltern, die ein High-Need-Baby versorgen, stehen unter einem unerwarteten Leistungsdruck, den andere Eltern nicht nachvollziehen können. Sich an anderen Eltern zu messen, ist auch deshalb nicht zu empfehlen. Jeder Mensch hat eine individuelle Grenze der Belastbarkeit und sollte Zeichen ernst nehmen, die darauf hindeuten, dass man diese erreicht hat oder in Kürze erreichen wird. Das können körperliche Erschöpfung, Dauermüdigkeit, leichte Reizbarkeit, ein Gefühl der Leere oder Traurigkeit oder – vom Babyschlaf unabhängige – Schlafstörungen sein. Auch andere Auffälligkeiten, wie Konzentrationsprobleme, Appetitlosigkeit oder Zurückgezogenheit sollten nicht ignoriert werden. Damit sollten sich Eltern im ersten Schritt an ihre:n Hausärzt:in wenden.
Anlaufstellen für Eltern mit High-Need-Babys
Wenn ein Baby überdurchschnittlich häufig und langanhaltend schreit, sollte die Ursache abgeklärt und Hilfe durch Expert:innen in Anspruch genommen werden. Mögliche Anlaufstellen für betroffene Eltern können sein:
- Kinderärzt:in
- Hebamme
- Schreiambulanz
- Erziehungsberatungsstelle
- Selbsthilfegruppen für Eltern mit High-Need-Babys (Schreibabys)
- Babysprechstunden in Kinderkliniken
- Familien- und Erziehungsberatungsstellen
Praktische Gadgets für den Alltag mit High-Need-Baby
Jedes Baby ist anders und nicht bei jedem Baby helfen die gleichen „Tricks“. Bei vielen High-Need-Babys haben sich die folgenden Gadgets jedoch bewährt und sind zumindest einen Versuch wert, um das Baby zu beruhigen:
- Tragetuch oder vergleichbare Tragehilfe
- Puck-Tuch oder Pucksack
- Federwiege
- Heizstrahler über dem Wickeltisch
- Weißes Rauschen, entspannende Musik, Naturgeräusche oder Walgesang, Geräusch von einem Föhn
- Beistellbett oder Familienbett
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.