Beim Urspiel spielen Kinder mit unbearbeiteten Materialien, die ihnen die Natur zur Verfügung stellt. In geschlossenen Räumen ist das Urspiel nicht möglich, im urbanen Lebensraum aber durchaus, weiß Umweltpädagoge Rudolf Hettich.
Kinder haben schon immer gespielt – schon lange bevor es Spielzeug gab, wie wir es heute kennen. Die Natur kann ein großer Abenteuerspielplatz sein. Beim Urspiel nutzen Kinder das, was ihnen die Natur großzügig zur Verfügung stellt: Äste, Blätter, Früchte, Moos, Steine, Wurzeln, Lehm, Erde, Sand, Eis, Wasser. Sie begegnen Tieren, begreifen die Elemente, lernen unterschiedliche Lebensräume und Landschaftsstrukturen kennen, beobachten Naturphänomene, erfahren die Jahreszeiten und Rhythmen.
„Das Urspiel ist für Kinder der wichtigste elementare Zugang zur Natur in ihrem ganzen Leben und die Grundlage für den Aufbau eines Naturgewissens“, sagt Rudolf Hettich. Als Umweltpädagoge hat er viele Kinder beim Spiel in der Natur beobachten dürfen und seine Schlüsse daraus gezogen. „Es geht beim Urspiel nicht um ein Zurück zur Natur, nicht um Naturpoesie und Romantik, nicht um eine Verniedlichung der Natur“, stellt er klar.
Beim Urspiel sind Kinder frei
Im Urspiel des Kindes gebe es keinen Wettbewerb und keinen „Rucksack voller Ergebnisse“, auch keine Bewertungen durch Erwachsene und keinen Sieger oder Verlierer. „Das Urspiel ist ein Geschenk der Schöpfung und kein künstliches Massenprodukt, es ist die Einheit von Kind und Material und die Quelle seiner Kraft“, schreibt Rudolf Hettich in seinem Buch „Spielplätze für Kinderseelen“. Die Kinder sind frei in ihrer Gestaltung. Das regt die Fantasie und Kreativität an, stärkt das Selbstbewusstsein und das Verständnis dafür, warum die Natur schützenswert ist.
Rudolf Hettich ist Umweltpädagoge, NaturSpielRaumPlaner, Erlebnispädagoge, Spieltherapeut, Naturfotograf und Buchautor. Leiter der freien Bildungseinrichtung GNU (Gesellschaft für Natur- und Umwelterziehung e.V.), des Verlags Rudolf Hettich, Leiter von natürlich & anders (Spielraumgestaltung Hettich) und der Schule für Schöpferische Erziehung.
Urspiel in einer modernen Welt
Unsere Welt ist in den letzten Jahrzehnten schnelllebiger und fordernder geworden. Die Menschen haben sich immer weiter von der Natur entfernt und auch dadurch sind Ängste entstanden. Viele Eltern fürchten die Gefahren, die in der Natur lauern, weil sie selbst nie damit konfrontiert worden sind. Um ihre Kinder zu schützen, schränken sie deren Bewegungsfreiraum stark ein. Im Kinderzimmer vor einer Konsole sitzend kann schließlich weniger passieren, als beim Toben durch den Wald. Zu Ängsten vor Unfällen oder Krankheiten kommt bei vielen Eltern der Druck, ihre Kinder bestmöglich auszubilden. Damit sie in der Zukunft einen guten Job mit einem guten Gehalt bekommen. Nach der Schule müssen sie pauken, zur Nachhilfe gehen, ein Musikinstrument und eine Sportart erlernen und andere Talente fördern. Schon die Allerkleinsten werden in angeleiteten Kursen angemeldet. Kinder ohne Ziel und Anleitung einfach frei in der Natur spielen zu lassen, kommt vielen Eltern gar nicht erst in den Sinn. Das erlebt auch Rudolf Hettich – er betont: „Urspiel ist kein Kinderkram, keine nutzlose Zeitverschwendung, sondern die Befriedigung urmenschlicher Bedürfnisse.“ Im Urspiel wird die kindliche Entwicklung unbewusst und ohne Druck gefördert.
(Nat)urspielkinder auf dem Land und in der Stadt
Rudolf Hettich ist sich sicher, dass das für Kinder nicht nur im Wald, auf der Wiese oder am Bach, sondern auch in kleinsten Naturräumen im unmittelbaren Wohnumfeld – sofern vorhanden und Erwachsene es zulassen – umsetzbar ist. Es zeige sich bei Kindern in ganz unterschiedlichen Tätigkeiten und Formen:
- In eine Pfütze springen
- durch Wasser und Schlamm waten
- am Bach einen Staudamm bauen
- wilde Tümpel graben
- Froschlaich sammeln
- Gräser, Blumen und Blätter pflücken
- auf einer Wiese rennen, sich fangen und balgen
- die Blüten von Blumen mit dem Fuß abköpfen
- sich verstecken in Hecken und Sträuchern
- kleine Wildtiere fangen, festhalten und untersuchen
- Äste abbrechen
- Steine und Zapfen werfen
- auf Bäume und Sträucher klettern, hangeln und herunterspringen
- mit Stöcken auf Baumstämme klopfen, über Baumstämme springen und balancieren, Rinde von Bäumen abziehen
- Löcher und Höhlen in die Erde graben
- mit Naturmaterialien „kochen“ und „backen“
- einen Hang, eine Böschung oder einen Berg herunterrutschen, kullern und purzeln
- mit Stöcken kämpfen
- ein Lager bauen – in Sträuchern und Bäumen
- ein Feuer entfachen
“ Urspiel ist für Kinder Begegnung aus erster Hand, ist Begegnung mit dem Eigentlichen, mit dem Original und nicht mit dem Abbild, das nur irgendwie vermittelt wird, ist nicht Wissen und nicht Anschauung, sondern gespielte Wirklichkeit in der Natur“, definiert Rudolf Hettich Urspiel.
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.