Kinder entdecken die Welt mit allen Sinnen. Beim Spielen im Freien, beim Kneten oder Malen, aber auch beim Essen und Trinken kann es passieren, dass sich Kinder von Kopf bis Fuß schmutzig machen. Und das ist gut so. Werden Kinder angehalten, stets sauber zu bleiben, kann dies ihre Entwicklung behindern und ihr Immunsystem schwächen.
Immer mehr Menschen leiden unter Allergien und Autoimmunerkrankungen. Als Ursachen hierfür gelten mehrere Faktoren, doch ein häufig genannter ist eine übertriebene Hygiene im Alltag. Expert:innen warnen Eltern davor und appellieren dafür, dass sich Kinder auch mal schmutzig machen dürfen. So etwa Prof. Dr. Eckard Hamelmann, Chefarzt der Kinderklinik des Evangelischen Klinikums Bethel in Bielefeld und 1. Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Allergologie. In einem Vortrag für medizinisches Fachpersonal erklärt er, dass in der frühen Kindheit die Grundlagen für ein gesundes Erwachsenendasein gelegt werden. Vor allem sollten Kinder möglichst häufig in der Natur spielen, – denn dort kommen sie mit möglichst vielen Umwelteinflüssen in Kontakt, was ein wichtiges Training für das kindliche Immunsystem sei.
Schmutz ist gut
Kinder, die sich schmutzig machen dürfen, leben gesünder als jene, die strenge Hygieneregeln einhalten müssen – das behauptet auch Dr. Jack Gilbert, Fakultätsleiter des Mikrobiom-Zentrums an der University of Chicago. Nach der Geburt seines zweiten Kindes hat sich der renommierte Wissenschaftler eingehend mit dem Thema auseinandergesetzt, eine Studie dazu geleitet und ein Buch mit dem Titel „Dirt Is Good – The Advantage of Germs for Your Child’s Developing Immune System“ (zu Deutsch „Schmutz ist gut – Der Vorteil von Keimen für das sich entwickelnde Immunsystem deines Kindes“) geschrieben. Dabei sei jedoch zu differenzieren, ergänzt Gilbert. Der Titel sei vom Verlag bewusst provokant gewählt worden. Man könne nicht pauschal sagen, dass Schmutz grundsätzlich immer gut sei, doch wolle er Schwangere und Eltern die grundsätzliche Angst davor nehmen und vor übertriebenen Hygienemaßnahmen warnen.
Übertriebene Hygiene kann schaden
So könne ein möglichst steriler Lebensraum, wie wir ihn vielerorts in unserer westlichen, urbanisierten Welt vorfinden, einem Kind und dessen Immunsystem mehr schaden, als nützen. Dieses Wissen ist in vielerlei Hinsicht erleichternd und kann dafür sorgen, dass Eltern so mancher Situation im Alltag entspannter begegnen können. So ist es in der Regel etwa nicht notwendig, alle Oberflächen im Haushalt sowie Spielsachen zu desinfizieren oder spezielle Hygienespüler für Kleidung einzusetzen. Auch müssen Kinder nicht ständig ihre Hände waschen oder gar desinfizieren und schon gar nicht täglich baden. Wird dem Immunsystem durch derartige Maßnahmen die Arbeit abgenommen, neigt es dazu, harmlose Stoffe oder sogar den eigenen Körper zu bekämpfen – Allergien, etwa gegen Pollen oder Tierhaare oder Autoimmunerkrankungen wie Diabetes Typ 1, Morbus Crohn oder Rheuma können entstehen. Diese Meinung teilt Hamelmann und erklärt, dass der Mensch im Normalfall keine Probleme mit etwa Pollen habe, wenn das „immunologische Gedächtnis“ vernünftig programmiert wurde.
Die Fünf-Sekunden-Regel auf dem Prüfstand
Jedes Kind kennt die sogenannte 5-Sekunden-Regel: Fällt ein Lebensmittel auf den Boden und hebt man es binnen fünf Sekunden auf, kann man es noch essen. Vergeht ein längerer Zeitraum, muss man es wegwerfen. Gilbert räumt in seinem Buch mit diesem Ammenmärchen auf und erklärt, dass alles, was auf den Boden fällt unmittelbar und nicht erst nach fünf oder mehr Sekunden mit Mikroben übersehen ist. In einem gewöhnlichen Haushalt sei dies aber völlig unbedenklich und kein Grund zur Sorge. Lediglich an Orten, an denen der Boden eventuell mit gefährlichen Krankheitserregern kontaminiert sein könnte, sei Vorsicht geboten – und zwar egal, wie lange das Essen auf dem Boden lag. Das Gleiche gilt übrigens für den Beruhigungssauger eines Babys. Ist dieser auf den Boden gefallen und wird er dem Kind ohne vorheriges Abwaschen oder gar Abkochen wieder in den Mund gesteckt, könne das, laut Gilbert sogar das Immunsystem stärken, vor Allergien und Asthma schützen.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Wie Gilbert bereits angedeutet hat, ist Schmutz nicht immer und ausnahmslos gut für Kinder und es gibt durchaus Orte, an denen Kinder nicht spielen sollten und Situationen, in denen Hygienemaßnahmen wichtig sind. Mit Schmutz sind weder Müll noch gefährliche Krankheitserreger oder Stoffe gemeint. Über Tierkot beispielsweise können Erkrankungen wie der Fuchsbandwurm übertragen werden, weshalb der Umgang damit von Eltern bei kleineren Kindern überwacht und größeren Kindern erklärt werden sollte. Nach dem Reinigen des Katzenklos oder Kaninchenstalls ist Händewaschen ebenso ratsam wie nach dem eigenen Toilettengang. Leidet ein Familienmitglied an einer ansteckenden Krankheit wie einem Magen-Darm-Virus, darf die Haushaltshygiene in der nächsten Zeit über das normale Maß hinaus gehen und können Desinfektionsmittel hilfreich sein, um eine Ansteckung der übrigen Familienmitglieder zu verhindern. Hamelmann warnt eindringlich davor, Kinder bewusst krankmachenden Viren und Bakterien auszusetzen, wie es etwa bei sogenannten Masernpartys der Fall sei. Beim Appell, Kinder sollen sich schmutzig machen dürfen, gehe es darum, einem Kind, das im Matsch gebuddelt hat danach nicht sofort die Hände mit einem Desinfektionstuch abzuwischen.
Rebecca Sommer
Rebecca Sommer hat nach ihrem Studium ein Volontariat bei einer Tageszeitung absolviert und war als Redakteurin und Buchautorin für diverse Verlage und Medien tätig. Heute arbeitet die vierfache Mutter als Geschäftsführerin der nachhaltigen Werbeagentur between und leitet das Projekt Naturkind. Mit ihrer Familie lebt die 36-Jährige auf einem Hof in der Nähe von Hamburg.